Text: NABU mit Ergänzungen von Hermann Schmaus und Michael Kuhn
Der Stieglitz (Carduelis carduelis) gehört zu den buntesten und gleichzeitig beliebtesten Singvögeln in Europa. Kaum eine andere Art steht so für die Vielfalt und Farbenpracht unserer Land-
schaften. Doch die zunehmende Intensivierung der Landwirtschaft und die Bebauung von Brachflächen rauben dem Stieglitz die Nahrungs- und Lebensgrundlagen. Es wird enger für den farben-frohen Distelfinken. Mit seiner Wahl zum Vogel des Jahres 2016 wollen NABU und LBV den fortschreitenden Strukturverlust in unserer Kulturlandschaft ins Blickfeld rücken: Der Stieglitz ist somit Botschafter für mehr Artenvielfalt und Farben in Agrarräumen und Siedlungsbereichen.
Die Laute des Stieglitzes sind unverwechselbar: Am häufigsten ertönt ein helles, mehrsilbiges „stiglit“, „didelit“ oder „didlilit“, welches den stimmfreudigen Vögeln auch ihren deutschen Namen einbrachte. Sein Gesang ist ein lautes, hastig vorgetragenes Zwitschern und wird oft mit einer rhythmischen Wiederholung der arttypischen „stiglit“-Rufe eingeleitet, denen mehrere Triller und Schnörkel folgen. Gesangspassagen und Rufe gehen oft ineinander über, unterscheiden sich jedoch in ihrer Rolle: Kontakt- oder Warnrufe der bunten Vögel sind das ganze Jahr über zu hören. Besonders im Herbst und Winter kommunizieren Schwärme auf diese Weise miteinander. Der Gesang dient hingegen der Partnerwerbung sowie der Reviermarkierung und festigt die Bindung eines Paares.
Wie alle Vertreter der Gattung Carduelis haben auch Stieglitze eine schlanke Gestalt mit einem vergleichsweise kurzen Hals und dünnen Beinen. Sie erreichen eine Körperlänge von 12 bis 13 Zentimetern und sind damit etwas kleiner als Spatzen. Mit einem Gewicht zwischen 14 und 19 Gramm wiegen sie ungefähr so viel wie zwei Ein-Euro-Stücke.
Stieglitze tragen ein auffällig farbenfrohes Gefieder und gehören damit zu den buntesten Singvögeln. Unverwechselbar leuchtet ihre rote Gesichtsmaske auf dem ansonsten weiß und schwarz gefärbten Kopf. Rücken und Brust sind hellbraun, Bauch und Bürzel weiß gefärbt. Die überwiegend schwarzen Flügel weisen eine deutlich abgesetzte breite, leuchtend gelbe, Binde auf. Der schwarz gefärbte Schwanz zeigt an den äußeren zwei bis drei Steuerfedern weiße Abschnitte.
Ursprünglich in lichten Wäldern und Waldrändern zuhause, lebt unser Jahresvogel heute sowohl in ländlichen als auch städtischen Gebieten. Dabei liebt er es bunt und vielfältig: Bäuerliche Siedlungen mit Obstbaumkulturen auf blumen- und artenreichen Wiesen bieten ihm das ganze Jahr hindurch einen reichlich gedeckten Tisch. Auch in halboffenen Landschaften mit Alleen, Straßenbäumen, Feldgehölzen, Hecken oder Hopfenkulturen fühlt er sich wohl. Der Stieglitz kann in Höhenlagen von bis zu 1.500 Metern leben – sofern er Nistmöglichkeiten und ein vielseitiges Nahrungsangebot findet.
Die Einwanderung von Stieglitzen aus der freien Landschaft in unsere Dörfer und Städte scheint in Deutschland weitgehend abgeschlossen zu sein. Knapp 60 Prozent des bundesweiten Bestandes findet sich heute im Sied-
lungsraum, die restlichen 40 Prozent im Agrarraum. Dort macht ihnen die immer intensivere landwirtschaftliche Nutzung der Landschaft zu schaffen: Felder werden zusammengelegt, mehr und mehr kleine bäuerliche Betriebe verschwinden. Damit geht auch der Bestand an Hochstamm-Obstbäumen und artenreichen Blumenwiesen zurück oder verschwand vielerorts sogar ganz. Damit bleiben den Stieglitzen unsere Dörfer und Städte als Rückzugsraum. Hier bieten ungenutzte Ecken und extensiv gepflegte Wegränder noch bessere Überlebenschancen. Die bunten Finken bewohnen hier nicht zu intensiv gepflegte Parks oder Gärten und brüten sogar im Inneren von Städten – zum Beispiel in Grünanlagen, baumbestandenen Schulhöfen, an Sport- oder Parkplätzen sowie auf Brach- und Industrieflächen.
Speziell im Winter nutzen Stieglitzgruppen verschiedene Brachflächen, die sie regelmäßig anfliegen. Diese können durchaus mehrere Kilometer voneinander entfernt liegen. Vor allem hochwüchsige Stauden wie verschiedene Klettenarten und Karden stehen dann auf dem Speiseplan, da sie aus der Schneedecke herausragen. Auch Erlen-, Birken- oder Kiefernbestände sind beliebte Ziele während der Nahrungssuche. Wenn die Futterpflanzen vollständig zugeschneit sind, ziehen Stieglitze in wärmere Regionen ab oder bedienen sich an den Futterhäuschen zahlreicher Vogelfreunde. Dann sind sie auch gut im Garten oder auf dem Balkon zu beobachten.
Stieglitze sind tagaktive Vögel und leben die meiste Zeit des Jahres in Gruppen. Neben der bunten Gefiederfarbe fallen Stieglitze vor allem durch ihr lebhaftes, rastloses Verhalten auf. So können einzelne Tiere eines Trupps oft beim fliegenden Wechsel von Futterpflanze zu Futterpflanze beobachtet werden. Bereits im Sommer schließen sich Jungvogelgruppenund Familien zu Schwärmen zusammen: Tagsüber geht es gemeinsam auf Nahrungssuche, abends bilden sie Schlafgemeinschaften.
Stieglitze führen eine monogame Saisonehe mit durchschnittlich zwei Jahresbruten. Je nach Witterungsverhält-nissen beginnt das Männchen im Februar oder März mit dem Balzgesang. Die Brutzeit liegt zwischen Ende März und Juli. Im Gegensatz zu vielen anderen Singvögeln verteidigen Stieglitze keine großen Territorien, sondern nur die unmittelbare Nest-Umgebung für ihre Familie. Die eigentlichen Nahrungsgebiete dagegen werden gemeinsam mit den Stieglitz-Nachbarn genutzt. So kann es zur Bildung kleiner Brutkolonien mit durchschnittlich drei bis fünf Paaren kommen.
Stieglitze bevorzugen Nistplätze hoch oben in der Baumkrone. Ist ein geeigneter Ort gefunden, fängt das Weibchen etwa Mitte April mit dem Nestbau an. Das Weibchen brütet nach der Ablage des dritten Eis für 12 bis 14 Tage allein und wird während dieser Zeit vom Männchen versorgt. Nach etwa zwei Wochen verlassen die Jungen das Nest, bleiben aber im Geäst sitzen. Dort versorgen die Altvögel sie weiter, bis sie im Alter von drei Wochen allein Nahrung aufnehmen können und mit vier Wochen selbstständig sind. Das Stieglitzweibchen beginnt noch während der Jungenaufzucht mit dem Bau eines neuen Nestes für die zweite Jahresbrut. Die sympathischen bunten Finken können bis zu 12 Jahre alt werden, das Durchschnittsalter freilebender Tiere liegt jedoch wesentlich niedriger.
Stieglitze fressen mit Vorliebe halbreife oder reife Samen zahlreicher Stauden, Gräser und Bäume. Die Speisekarte der bunten Finken wechselt dabei im Jahresverlauf. Werden im Winter vor allem Baumsamen verzehrt, ernähren sich Stieglitze während der Brutzeit vornehmlich von Samen milchreifer Korbblütler. Nur äußerst selten fressen sie tierische Nahrung wie Blattläuse, die sie geschickt von den Pflanzen absammeln. Später im Jahr ernähren sich Stieglitze am liebsten von verschiedenen Distelarten. Im Unterschied zu den meisten anderen heimischen Sing-
vögeln leben Stieglitze ganzjährig in Gruppen - auch zur Brutzeit - und gehen gemeinsam auf Nahrungssuche. Im Winter schließen sich mehrere Gruppen zu größeren Schwärmen zusammen und mischen sich häufig mit Blut-
hänflingen, Girlitzen und Grünlingen.
Die Ornithologen des NABU Rhein-Erft bestätigen, dass der Stieglitz im Rhein-Erft-Kreis noch zu den häufigen Brutvögeln zählt.
Michael Kuhn betont, dass der Stieglitz in unserer Region mittlerweile voll verstädtert ist. Er hat z. B. Brutnachweise im Zentrum von Erftstadt-Lechenich gefunden und sogar in einer dicht bebauten Hochhaussiedlung in Köln-Zollstock, mit kaum Grünflächen, fand er einen singenden und nestbauenden Stieglitz in einem der wenigen jungen Straßenbäume.
Im Winter beobachten Michael Kuhn und Hermann Schmaus die Wintertrupps oft an der „Großen Karde“, dabei kann die Trupp-Größe bis über hundert Individuen umfassen. In den Erlenbeständen der rekultivierten Braunkohlegebiete kommt der Stieglitz dabei artrein oder auch gemischt mit Erlenzeisigen vor.
Hermann Schmaus trifft regelmäßig im Winter größere Trupps, bis zu 150 Stieglitzen, am Boisdorfer See an, wo sie sich über die Erlensamen hermachen. Im strengen Winter 2012/13 konnte Hermann Schmaus im eigenen Garten sogar einmal 96 Stieglitze am Futterhaus zählen. Und regelmäßig ist der Stieglitz als Familienverband in unseren Gärten anzutreffen, insbesondere dort, wo es zahlreiche Sonnenblumen gibt.
Immer weniger Landstriche in Deutschland bleiben unberührt: Brachflächen fallen der Agrarpolitik zum Opfer oder werden in Städten zubetoniert. Die Bewirtschaftung von Ackerrändern und Asphaltierung von Feldwegen verdrängen Wildstauden und andere Nahrungspflanzen der Stieglitze. Deshalb siedeln sie und andere Vogelarten zunehmend in städtische Gärten, Parks oder auch Industriebrachen. Doch auch hier sind ihre Lebensgrundlagen bedroht: „Wildwuchs“ an Wegrändern, in öffentlichen Grünanlagen, privaten Gärten oder an Sportplätzen wird oftmals akribisch entfernt. Häufig kommen dabei flächendeckend Unkrautvernichtungsmittel zum Einsatz – nach dem „Vorbild“ der industriellen Landwirtschaft.
Feldraine und Wegränder werden immer weniger und schmaler. Pestizide und Düngemittel vernichten Wildkräuter und damit Nahrungsgrundlagen des Stieglitzes und vieler anderer Tiere.
Am dramatischsten für den Stieglitz ist jedoch der Verlust landwirtschaftlicher Brachflächen, dem eigentlichen „Speisetisch“ unseres Jahresvogels. Bis 2007 verlangte die gemeinsame EU-Agrarpolitik noch Brachflächen auf jedem landwirtschaftlichen Betrieb. Seitdem werden alle Flächen eines Betriebes für den Fruchtanbau genutzt, was negative Folgen für viele Vogelarten nach sich gezogen hat und von NABU und LBV heftig kritisiert wird.
Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein waren die farbenfrohen Stieglitze begehrte Stubenvögel. Der Fang wild-
ebender Stieglitze ist zwar mittlerweile durch die EU-Vogelschutzrichtlinie verboten. Dennoch machen illegale Vogelfänger in einigen Staaten rege Geschäfte auf Kosten dieser Tiere – auf Malta sogar mit offiziellem Segen: Im Jahr 2014 trat eine umstrittene nationale Ausnahmegenehmigung für den Netzfang von Stieglitzen und anderen Finkenvögeln im Herbst und Winter in Kraft. Sie werden dort lebend gefangen und auf dem Vogelmarkt in Valletta verkauft. NABU und LBV kämpfen mit ihren maltesischen Partnern dafür, dass diese Regelung schnellstmöglich zurückgezogen wird. Auch die EU-Kommission hat bereits ein Verfahren dagegen eingeleitet.
Überregional kann nur eine Reform der bestehenden EU-Agrarrichtlinien und Förderinstrumente dazu beitragen, die fortschreitende Flurbereinigung in der Agrarlandschaft zu stoppen bzw. bestehende Strukturen wie Acker- und Grabensäume, Hecken, Feldgehölze, Kleingewässer, Bachfläche oder unbefestigte Feldwege zu erhalten oder neu zu schaffen. Daneben ist es zwingend erforderlich, extensive Bewirtschaftungsformen zu fördern und Flächen-stilllegungen zumindest temporär durchzusetzen. Naturschutzgebiete mit reichlich Blüten- und Samenpflanzen können ebenso wie die Schutzgebiete im Eigentum von NABU und LBV Überlebensräume für den Stieglitz sein.
Auf Gemeindeebene werden dringend Konzepte benötigt, die die Bereitstellung und den Erhalt von struktur-reichen Straßenbegleitflächen sowie von Ruderalflächen mit samentragenden Pflanzen bei der Bau- und Städteplanung berücksichtigen. „Wild kann auch schön sein“ – hier müssen die Städte und Gemeinden ihre Vorbildfunktion erfüllen, um eine Akzeptanz unkonventioneller Gestaltungsformen in der Bevölkerung zu erzielen. Auch bei der Entwicklung neuer Siedlungsflächen muss angemessener Ersatz für artenreiche Brachflächen ein-
geplant werden.
Auch zum Vogel des Jahres 2016, dem Stieglitz, gibt es wieder viele informative und nützliche Materialien. Von der Broschüre bis zum Aufkleber – zu beziehen über die Geschäftsstelle des NABU Kreisverband Rhein-Erft.